Das menschliche Gehirn ist seit einigen Jahrzehnten Gegenstand beispielloser Forschungsanstrengungen. Allein im Human Brain Project der Europäischen Union wurde von 2013 bis 2023 mehr als eine halbe Milliarde Euro an Forschungsmitteln verausgabt. Verbesserte bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie oder die Positronenemissionstomografie sorgen gemeinsam mit weiteren innovativen Techniken etwa im Bereich der Neurogenetik oder der Neuroinformatik für ein immer genaueres Verständnis von Struktur und Funktion des Gehirns. Die neuen Einblicke in das Gehirn werden durch neue Möglichkeiten für Eingriffe ergänzt. Beispielsweise werden Stimulationstechniken wie die Tiefe Hirnstimulation oder die transkranielle Magnetstimulation nicht nur zur Behandlung neurologischer Störungen wie der Parkinsonkrankheit, sondern auch zur Linderung psychiatrischer Erkrankungen wie Depressionen oder Zwangsstörungen eingesetzt.
Die enormen Verheißungen der Neurowissenschaften führen durchaus nicht immer zu den gewünschten Resultaten. Insbesondere wurden Hoffnungen, das Verständnis der menschlichen Psyche durch Erkenntnisse zur Funktionsweise des Gehirns zu revolutionieren, bislang regelmäßig enttäuscht. Dies gilt beispielsweise für Ambitionen, die Diagnostik psychiatrischer Krankheiten durch bildgebende Verfahren oder das Erheben laborchemischer Biomarker auf ein völlig neues, „objektiveres“ Fundament zu stellen. Als kritische Instanz hat sich parallel zum Boom der Neurowissenschaften die Neurophilosophie als eigenständige Subdisziplin der Philosophie etabliert. Eine gängige neurophilosophische Argumentationslinie ist etwa, bestimmte Annahmen zum Zusammenhang von menschlichem Gehirn und menschlicher Psyche als vereinfacht bzw. reduktionistisch zurückzuweisen. Dies betrifft unter anderem die verbreitete These, die Neurowissenschaften hätten bewiesen, dass es keinen freien Willen gebe. Träfe diese These zu, hätte dies weitreichende Konsequenzen für das menschliche Selbstverständnis und würde auch grundlegende Annahmen der Ethik zur menschlichen Autonomie und Verantwortungsfähigkeit infrage stellen. Es ist daher üblich geworden, neben der Neurophilosophie auch von Neuroethik zu sprechen. In dieser Sparte der angewandten Ethik werden neben ethisch relevanten neurowissenschaftlichen Konzepten auch durch die Hirnforschung eröffnete Interventionsmöglichkeiten diskutiert. Zu letzteren zählen neben den schon erwähnten neurotechnischen Stimulationsverfahren etwa auch Bestrebungen, kognitive Fähigkeiten oder auch die Stimmung von Menschen mithilfe von Psycho- bzw. Neuropharmaka zu verbessern (sog. Neuro-Enhancement).