Pressemitteilung 08/2014

Ethikrat empfiehlt mehrheitlich eine Revision des § 173 StGB zum einvernehmlichen Geschwisterinzest

In seiner heute veröffentlichten Stellungnahme zum Thema Inzestverbot plädiert die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Ethikrates dafür, den einvernehmlichen Beischlaf unter erwachsenen Geschwistern zukünftig nicht mehr unter Strafe zu stellen.
24.09.2014

Anlass dafür, dass sich der Ethikrat mit dem Thema Inzestverbot befasst hat, war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 12. April 2012. Der EGMR hatte eine Beschwerde eines in Deutschland wegen Inzests verurteilten Mannes gegen das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Dieses hatte in einer Entscheidung von 2008 festgestellt, dass die Gesetzesregelung des § 173 StGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Damit hatte das Bundesverfassungsgericht aber nicht gesagt, dass das strafrechtliche Inzestverbot nicht aufgehoben oder geändert werden dürfe. Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Ethikrat geprüft, ob aus ethischen Gründen eine Änderung der derzeitigen Rechtslage empfehlenswert ist.

Geschwisterinzest scheint nach allen verfügbaren Daten in den westlichen Gesellschaften sehr selten zu sein. Betroffene schildern aber, wie schwierig ihre Situation angesichts der Strafandrohung sei. Sie fühlen sich in ihren grundlegenden Freiheitsrechten verletzt und zu Heimlichkeit oder Verleugnung ihrer Liebe gezwungen. Dem Ethikrat sind ausschließlich Fälle bekannt geworden, in denen Halbgeschwister nicht gemeinsam aufgewachsen sind und sich erst im Erwachsenenalter kennengelernt haben.

Die Mehrheit des Deutschen Ethikrates ist der Auffassung, dass das Strafrecht nicht das geeignete Mittel ist, ein gesellschaftliches Tabu zu bewahren. Es hat nicht die Aufgabe, für den Geschlechtsverkehr mündiger Bürger moralische Standards oder Grenzen durchzusetzen, sondern den Einzelnen vor Schädigungen und groben Belästigungen und die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen zu schützen.

Diesem Schutz dienen die Regelungen der §§ 174 ff. StGB ("Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung"). Insbesondere der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, Zwangslagen oder fehlender sexueller Selbstbestimmung sowie die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung sind hier unter Strafe gestellt. Das gilt selbstverständlich auch für sexuelle Handlungen zwischen Blutsverwandten.

Im Fall einvernehmlichen Inzests unter volljährigen Geschwistern können weder die Befürchtung negativer Folgen für die Familie noch die Möglichkeit der Geburt von Kindern aus solchen Inzestbeziehungen ein strafrechtliches Verbot dieser Beziehungen rechtfertigen. Das Grundrecht der erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung ist in diesen Fällen stärker zu gewichten als das abstrakte Schutzgut der Familie.

Dies gilt auch bei einvernehmlichem Inzest, wenn einer der Partner noch unter 18 Jahren alt ist und ein lebenspraktischer Familienverbund, der geschädigt werden könnte, nicht mehr besteht. Das Strafrecht darf nicht zum Schutz von Abstrakta wie der rein rechtlichen Verfasstheit der Familie eingesetzt werden. Fälle, in denen der Familienverbund existiert und einer der Partner noch nicht 18 Jahre alt ist, sind dem gegenüber anders zu beurteilen. Hier überwiegt das Schutzgut Familie.Für solche Fälle sollte die Strafbarkeit neben dem Beischlaf konsequenterweise auch auf andere sexuelle Handlungen von erheblichem Gewicht ausgeweitet werden.

Die Empfehlung der Mehrheit des Deutschen Ethikrates berührt hingegen nicht die Frage, inwieweit auch die Strafbarkeit des Inzests zwischen Eltern und volljährigen Kindern aufgehoben werden sollte.

In einem abweichenden Votum erklären neun Mitglieder des DER, dass sie eine strafrechtseinschränkende Änderung oder gar Aufhebung des § 173 StGB ablehnen. Sie sehen darin ein irritierendes rechtspolitisches Signal, von dem eine Relativierung und Schwächung des verfassungsrechtlich legitimen und ethisch bedeutsamen Schutzguts der Strafnorm ausgehen könne. Zentrales Anliegen der Vorschrift sei nämlich der Schutz der Integrität und Inkompatibilität unterschiedlicher familialer Rollen als wichtiger Voraussetzung gelingender Persönlichkeitsentfaltung. Der Gesetzgeber habe diesen Gesichtspunkt als ein zentrales Abwägungsargument in seine Überlegungen einzubeziehen. Zudem liege die Annahme nicht fern, dass es zu noch weiter reichenden Forderungen nach Straflosstellung inzestuösen Verhaltens kommen werde.

Auch das abweichende Votum verkennt nicht, dass unter der Geltung des § 173 StGB manche Paare in eine tragische Lebenssituation geraten. Dem könne aber für bestimmte Konstellationen auch ohne gesetzgeberische Intervention im Prozess der Rechtsanwendung, z.B. durch die Einstellung eines staatsanwaltlichen Verfahrens, Rechnung getragen werden.