Pressemitteilung 02/2015

Deutscher Ethikrat diskutiert über "Modekrankheiten"

Burn-out, chronische Migräne, Wechseljahre des Mannes – werden mit diesen Beschwerdebildern tatsächlich Krankheiten erfasst oder neue Krankheiten frei erfunden? Werden soziale Probleme zu Krankheiten umgedeutet? Über den Drahtseilakt zwischen überflüssiger Medikalisierung und notwendiger Therapie diskutierte der Deutsche Ethikrat am 25. Februar 2015 im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung der Reihe "Forum Bioethik" in Berlin.
27.02.2015

Die zuverlässige Diagnostik von Krankheiten ist der Ausgangspunkt für eine zielgerichtete Therapie. Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse nur dann behandelt werden, wenn eine Erkrankung tatsächlich vorliegt und es Therapien gibt, die die Krankheit verhindern, heilen oder Symptome lindern. Doch was überhaupt als Krankheit betrachtet und behandelt wird, hängt nicht immer nur von medizinischen Fakten ab. Auch kulturelle und wirtschaftliche Faktoren können eine Rolle dabei spielen, und manche Krankheiten geraten dadurch geradezu in Mode.

Dass die Geschichte der westlichen Medizin reich an "Modekrankheiten" sei, die nicht nur unter Ärzten, sondern auch in der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen werden, stellte Michael Stolberg von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in seinem Referat über Krankheitsmoden im Wandel der Zeiten sehr anschaulich dar. Sie seien in Indiz dafür, dass die Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheit stets und unausweichlich auch vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt sei.

Das Stichwort Disease-Mongering griff Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in ihrem Referat auf. Sie kritisierte, dass normale Prozesse des Lebens als medizinisches Problem definiert, neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen geradezu erfunden, leichte Symptome zu Vorboten schwerer Leiden stilisiert und Risiken als Krankheit verkauft würden. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die Betroffenen im Rahmen einer Medikation einem unnötigen Risiko ausgesetzt seien und gleichzeitig Ressourcen des Gesundheitssystems verschwendet würden. Die Politik sieht sie in der Pflicht, die Werbung für Arzneimittel strenger zu regulieren und verstärkt die unabhängige Forschung zu fördern. Aber auch die Bürger müssten sich aktiv informieren.

Thomas Schramme von der Universität Hamburg, der sich den normativen Fragen zum Umgang mit Krankheitsmoden widmete, beklagte die drohende Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Es werde nicht unterschieden zwischen der Abwesenheit von Krankheit als Mindestkriterium für die Gesundheit (negativer Gesundheit) und der idealtypischen bestmöglichen Gesundheitsdisposition (positiver Gesundheit). Hier gelte es, begriffliche Klarheit zu schaffen und zwischen tatsächlich pathologischen Phänomenen und medizinisch normalen Zuständen zu differenzieren. Er stellte zudem die Funktion des Krankheitsbegriffs für die Entscheidung über die solidarische Finanzierung von Therapie infrage.

In der anschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Jörg Blech vom Magazin Der Spiegel, Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit, Boris Quednow von der Universität Zürich und Christiane Fischer von MEZIS e. V. mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates Wolf-Michael Catenhusen, welche Folgen die Beschreibung immer neuer Krankheitsbilder hat. Eine Orientierung von Behandlungsentscheidungen an bloßen Laborwerten führe dazu, so Weissbach, dass aus zuvor gesunden Menschen behandlungspflichtige Patienten gemacht würden, ein grenzwertiger Befund zum "Überbefund" werde, der eine Überdiagnose und Übertherapie nach sich ziehe. Quednow warnte vor Krankheitsmoden in der Psychiatrie, die im Fall von Burn-out dazu führen könnten, dass einerseits eigentlich gesunde Menschen unnötig behandelt werden, andererseits aber das Risiko bestehe, dass Menschen, die an einer schweren Depression leiden, eine falsche Diagnose bekommen. Als die Urheber machten Blech und Fischer Pharmaunternehmen, medizinische Interessenverbände und PR-Agenturen aus, die neue Leiden erfänden und zum Industrieprodukt machten. Doch statt maximaler Versorgung unabhängig von der Ausprägung eines Krankheitsbildes sollten sich Ärzte in der "Kunst des Weglassens" üben, so Weissbach, und dabei mitunter von einer Therapie abraten, auch wenn sie damit keine honorierte ärztliche Leistung im Sinne der Krankenkasse erbrächten.

Das Programm der Veranstaltung die Vorträge und Diskussionsbeiträge der Teilnehmer können unter "Forum Bioethik" abgerufen werden.