Pressemitteilung 06/2024

Ethikrat: Normalitätsvorstellungen stärker hinterfragen

Heute erscheint das Impulspapier des Deutschen Ethikrates „Normalität als Prozess“. Darin untersucht der Rat, wie Vorstellungen dazu, was normal ist, in vielen gesellschaftlichen Bereichen normative Wirkung entfalten. Anhand konkreter Beispiele will er die Veränderlichkeit, Kontextabhängigkeit und Mehrdeutigkeit solcher Normalitätsvorstellungen stärker ins Bewusstsein rücken.
16.10.2024

Normalitätsvorstellungen stiften Orientierung: Fragen wie „Liegt mein Körpergewicht im Normalbereich?“ oder „Ist es noch normal, dass ich schon so lange über den Tod meiner Mutter trauere?“ prägen nicht nur unser Selbst-, sondern auch unser Weltverständnis. Die moralische Entrüstung, mit der alltägliche Äußerungen wie „Das ist doch nicht normal!“ häufig vorgetragen werden, verdeutlicht bereits die normative Aufladung von Normalitätsdiskursen. Manche Abweichungen von der Norm hingegen werden ausdrücklich positiv bewertet, zum Beispiel außergewöhnliche sportliche oder künstlerische Leistungen.

„Mit seinem Impulspapier will der Deutsche Ethikrat zum Nachdenken anregen: Lässt sich Normalität einfach so feststellen? Wer bestimmt, was als ‚normal‘ gilt? Und welche Auswirkungen haben unsere Vorstellungen von Normalität einerseits auf persönliche Entscheidungen und andererseits auf gesellschaftliche Diskurse, etwa zu moralischen oder rechtlichen Themen? Diese Fragen sollten aus unserer Sicht stärker reflektiert werden, auch in den Medien sowie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen“, erklärt Petra Bahr, Sprecherin der Arbeitsgruppe des Ethikrates zum Thema.

Ein wichtiger Ausgangspunkt des Impulspapiers ist der Befund, dass weder das, was als normal gilt, noch das, was im Kontrast dazu anormal, abweichend oder auffällig erscheint, einfach „vorgegeben“ ist. Manchmal verändern sich Normalitätsvorstellungen allmählich und unmerklich, in anderen Fällen ist ihr Umsturz das erklärte Ziel politischer Kampagnen. „Aus ethischer Perspektive ist vor allem darauf zu achten, ob und wann sich Normalitätsvorstellungen entwickeln, die mit grundlegenden moralischen Werten wie Menschenwürde, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen sind“, betont Petra Bahr.

Normalitätsvorstellungen in den Lebenswissenschaften

Besonderes Augenmerk richtet der Deutsche Ethikrat auf kontroverse Normalitätsvorstellungen in der Medizin und den anderen Lebenswissenschaften. So nimmt die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit oft explizit oder zumindest implizit auf Normalität Bezug. Sehr umstritten ist diese Unterscheidung beispielsweise im Bereich der psychischen Gesundheit. Dazu wird im Impulspapier die Debatte zum Begriff der Neurodiversität als ein exemplarischer Normalisierungsdiskurs analysiert. Viele Menschen, die sich selbst als neurodivers verstehen, weisen etwa Krankheitszuschreibungen zurück und beanspruchen, im Vergleich zu „neurotypischen“ Personen „anders normal“ zu sein.

Prädiktive Genetik, Alters- und Körperbilder

Der Ethikrat illustriert die zahlreichen Konfliktlinien im gesellschaftlichen Umgang mit Normalitätsvorstellungen weiterhin mit Blick auf prädiktive genetische Tests sowie anhand von Alters- und Körperbildern. Neue Verfahren der nicht invasiven Pränataldiagnostik werfen die Frage auf, ob es so etwas wie „genetische Normalität“ überhaupt gibt und was daraus für unser Verständnis von Behinderung folgt. Der Wandel von früheren, vorwiegend defizitorientierten Sichtweisen des Alters hin zu positiven Altersbildern, die die Fähigkeiten und Potenziale älterer und auch hochbetagter Menschen in den Fokus rücken, lässt die Variabilität von Normalitätsvorstellungen besonders klar hervortreten. Die wachsende Macht digitaler Medien auf Normalisierungsdiskurse analysiert der Ethikrat am Beispiel der Bodypositivity-Bewegung, die das Aufbrechen problematischer Körperideale zum Ziel hat.

Anders als die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrates enthält das Impulspapier keine konkreten Empfehlungen. Es soll vielmehr Denkanstöße zu den vielschichtigen Beziehungen zwischen Normalität und Normativität liefern und für die Ambivalenzen des „Normalen“ sensibilisieren.