Normalitätsvorstellungen prägen unser Welt- ebenso wie unser Selbstverständnis. Was als normal gilt, ist keineswegs einfach vorgegeben, ebenso wenig wie das im Kontrast dazu anormal, abweichend oder auffällig Erscheinende. Schon in den unterschiedlichen Formen und Funktionen des „Normalen“ verbergen sich normative Aspekte des Guten und Gerechten. Normalitätsvorstellungen unterliegen historischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, sie können normativ vorweggenommen, verfestigt oder abgelehnt werden, sind oft umstritten und erweisen sich als nötige, aber auch ambivalente Formen der Orientierung im Denken und Handeln.
Insbesondere in der Medizin und in den Lebenswissenschaften finden sich zahlreiche Beispiele für kontroverse Normalitätsvorstellungen. So wird bei der Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit oft explizit oder – bei näherem Hinsehen – implizit auf Normalität Bezug genommen. Welches Körpergewicht ist für wen normal und wo beginnen die Bereiche „krankhaften“ Über- oder Untergewichts? Bis zu welchem Punkt kann Traurigkeit als normal gelten und ab wann ist man geneigt, eine traurige Person als depressiv zu betrachten? Gibt es so etwas wie genetische Normalität und was folgt daraus für unser Verständnis von Behinderung?
Wenn sich Normalität nicht einfach statistisch ermitteln lässt, stellt sich die Frage, wer die Macht und wer die Befugnis hat, über ihre Grenzen zu entscheiden. Manchmal verändern sich Normalitätsvorstellungen allmählich und unmerklich, in anderen Fällen ist ihr Umsturz das erklärte Ziel politischer Kampagnen. In liberalen und pluralen Gesellschaften kann Toleranz gegenüber Abweichungen von „normalen“ Handlungs- und Lebensweisen zum harmonischen Miteinander beitragen, aber auch hier sind die Grenzen solcher Toleranz auszuhandeln. Wo Normabweichungen beispielsweise das Wohl anderer Menschen gefährden, kommen unterschiedliche Sanktionen zum Einsatz, bis hin zu Zwangsmaßnahmen und anderen Formen staatlicher Gewalt.