Die Zeit der COVID-19-Pandemie dürfte für die meisten der heute in Deutschland lebenden Menschen die tiefgreifendste persönliche Erfahrung einer gesamtgesellschaftlichen Krisensituation gewesen sein. Die rasend schnelle weltweite Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus im Jahr 2020 hat das Vertrauen in die Planbarkeit des Lebens erschüttert und jeden von uns mit der Verletzlichkeit und Endlichkeit der Existenz konfrontiert.
In jeder Phase der bis ins Jahr 2023 andauernden pandemischen Notlage mussten im Interesse der öffentlichen Gesundheit politische Entscheidungen getroffen werden, die genuin ethische Abwägungen erforderlich machten. Der Deutsche Ethikrat hat durch eine Reihe kürzerer Ad-hoc-Empfehlungen und einige Veranstaltungen den wechselnden akuten Beratungsbedarf abzudecken versucht, der teilweise auch ausdrücklich vonseiten der Politik angemeldet wurde. Beispielsweise wurden ethische Kriterien entwickelt, um Priorisierungsentscheidungen etwa im Kontext der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen („Triage“) oder von Impfstoffen zu unterstützen, aber auch um Güterabwägungen zwischen individuellen Freiheitsrechten und Geboten der öffentlichen Gesundheitsfürsorge zu fundieren.
In einer umfangreichen Stellungnahme mit dem Titel „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie“ hat der Deutsche Ethikrat im Jahr 2022 die im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie gesammelten Erfahrungen analysiert und Empfehlungen für den zukünftigen Umgang mit Pandemien formuliert. Im normativen Teil der Stellungnahme werden unter anderem einige der Kriterien genauer begründet, die der Ethikrat bereits in seinen kürzeren Veröffentlichungen zu ethischen Einzelfragen zur Anwendung gebracht hat.